Mein erster Haar

Eine Story von Cassian
26.08.2024

In dieser Story

(Disclaimer: Der Text ist Teil meines Blogs, den ich für Freunde und Familie während meines Auslandsstudiums geschrieben habe.)

Erst als ich wirklich aufstehe offenbart mir der geänderte Blickwinkel das komplette Grau in Grau der Stadt. Zuerst hielt ich es für einen standardmäßigen Nieselregentag, aber die grauen Wolken erstrecken sich nicht bloß über den Himmel sondern auch über die Stadt. Also nicht über über sondern in der Stadt. Jetzt schalten meine Synapsen direkt und ich realisiere, was ich da vor mir habe: meinen ersten Haar. (Wikipedia: “In meteorology, haar or sea fret is a cold sea fog. It occurs most often on the east coast of England or Scotland between April and September, when warm air passes over the cold North Sea. The term is also known as har, hare, harl, harr and hoar”). Auf diesen Seenebel warte ich schon länger, habe ich doch mal wieder eine Fotoidee geklaut, die ich gerne umsetzen würde – ja, tut mir leid, aber ich bin wirklich zu unkreativ, um mir was eigenes einfallen zu lassen. Zufällig stieß ich zuvor auf den Begriff “haar” und habe diesen unbekümmert in die Suche bei Instragram eingegeben, um zu sehen, was andere mit diesem Phänomen angefangen haben. Ein Bild hatte dabei schnell meine Aufmerksamkeit: Eine schwarzweiß Aufnahme auf der George IV Bridge mit Blick auf die kleine Bobby Statur, wobei der Seenebel den Blick in die Tiefe nur erahnen lässt. Der Fotograf dieses Bildes hat zur Abendstunde aber nur eine kurze Belichtungszeit verwendet und so Autos und Fußgänger auf dem Bild gelassen. Mit den richtigen Personen kann sowas gut wirken, aber mich störte dies. Da ich aber nun auch niemanden spontan mit Mantel, Hut und Zeitung organisieren und dort hinstellen konnte, wollte ich ein gänzlich leeres Bild. Das erste Problem, dass sich mir stellte war die Uhrzeit. Noch ist es morgens. Um zum einen eine gewisse Mystik zu erzeugen, aber auch um die Tiefe des Bildes zu verdeutlichen, brauche ich Lichter. Bis die Laternen angehen dauert es aber noch ein paar Stunden. Also sitze ich vor meinen Uni-Readings stets mit vielen abgelenkten Blicken nach draußen, ob der Nebel sich verzieht oder vielleicht sogar noch dichter wird. Gegen viertel vor vier nehme ich die Tatsache, dass der Nebel noch da ist, freudig zur Kenntnis und mache mich mit Kamera und Stativ auf zum entsprechenden Spot. Als ich das Stativ gerade stehen habe, gehen die Laternen an. Der Nebel sitzt dicht und genau so, wie ich ihn für das Bild möchte.

Aufgrund der doch hellen Laternen schraube ich zunächst einen ND16 Graufilter auf mein Objektiv. Die Blende mache ich hier eher zu und stelle sie auf irgendwas zwischen 8 und 11 ein. Meine Augen haben mich etwas getäuscht und als ich merke, dass es doch zu dunkel für den Graufilter ist, schraube ich diesen zum Fokussieren wieder ab und tausche ihn dann mit dem etwas schwächeren ND 8. Nun teste ich mich aus: Mal Belichtungen von 20-30s, mal kurze von 1,5-3s und mal ganz ohne Filter mit 1/80. Immer wieder lande ich jedoch bei den extra langen Belichtungsreihen, da mir das ganze Fußvolk doch etwas auf den Keks geht und ich das so verschwinden lassen kann. Leider hat das aber hier auch eine negative Nebenwirkung: Die Lichter der Autos machen Spuren.

Was manchmal gewünscht ist und ganz cool aussehen kann, macht mir meines Erachtens die Stimmung in meinem Bild kaputt. Was eigentlich etwas düster und nach 20er Jahre aussehen soll, wird jetzt mit futuristischen Lichtstreifen zerstört. Während “entspannte” Leute mit einer kräftig gedrehten Tüte mich passieren und dabei ein Tempo aufweisen, als könnte ich ihnen gleichzeitig schon frohe Weihnachten und guten Rutsch wünschen, bis sie wieder aus meinem Bild verschwinden, kommt auch meine Abneigung gegen Personen mit grellen Farben wieder auf. Diesmal aber unbegründet: In Island fand ich es schrecklich, da sie sich bewusst mit solchen Kleidungsstücken an Fotomotive gestellt haben, die auch andere fotografieren wollten. Diesmal stehe ich mitten in der Stadt zum Feierabendverkehr und natürlich kommen dann Menschen aller Berufsgruppen hier vorbei. Dennoch, dieser Reflex, der sich in meinem Nacken auslöst, sobald ich bei einem Foto eine Person mit leuchtender Jacke sehe, ist einfach zu eingebrannt und hat sich auch hier wieder gemeldet. Plötzlich macht es klick und weitere Lichter gehen an. Ich mache noch ein paar Aufnahmen, bevor noch eine weitere Reihe Lichter angehen, während mir klar wird, dass sich der Nebel seit einer Weile schon stark zurückgezogen hat. Ich scrolle an der Kamera durch die Bilder und bin schon jetzt etwas ernüchtert: wirklich dicht war er nur bei den ersten paar Aufnahmen. Ich setzte wieder meine Mütze auf, die ich zwischendurch als Regenschutz meiner Kamera aufgesetzt habe, packe alles wieder zusammen und biege nun links in die Straße vor mir ab, um noch über den Grassmarket zu gehen. Eine Idee habe ich noch und so geht es noch zu einem kurzen Abstecher zum Vennel Viewpoint. Auch dort müssten die Laternen noch an sein und je nach dem wie nun der Nebel liegt, könnte von dort aus ein Blick auf Edinburgh Castle mit darunter liegendem Nebel möglich sein. Kaum komme ich an, macht sich schon Ernüchterung breit: Vom Castle ist rein gar nichts zu sehen. Nicht mal die Beleuchtung der Mauern dringen durch den Nebel. Nach zwei Bildern verliere ich schon die Motivation noch einen Winkel für ein zumindest okaysches Bild zu finden, packe zusammen und gehe. Auf dem Rückweg passiere ich noch einige Personen mit Kamera, die auch gerade zusammenpacken oder in Häusern verschwinden – haben wohl auch den Seenebel ausnutzen wollen. Zuhause sichere ich direkt die Bilder wobei ich schon nach kurzer Durchsicht einer Freundin schreibe, dass diese wohl nichts wirklich geworden sind.

Am nächsten Morgen setze ich mich doch nochmal dran, scrolle durch und bin noch immer der Meinung. Dennoch will ich einen letzten Versuch starten: Ich öffne drei der ersten Bilder in darktable, bearbeite sie grob, setze sie in Schwarzweiß und schiebe sie danach in Glimpse rein, wo ich sie als mehrere Ebenen öffne. Drei Bilder: Eins, bei dem links eine Person den Weg runter geht, eines bei dem mittig Passanten gehen und rechts etwas Verkehr ist und eines, in dem rechts viel Verkehr ist. Auf jedes Bild eine Maske, etwas radieren, neu ordnen, wieder radieren,… Insgesamt teste ich ca. 1-1,5h rum, bis ich es doch geschafft habe aus 3 Bildern eines zu machen. Erst dann fällt mir auf, wie viel Zeit ich da wieder reininvestiert habe. Nachdem ihr nun die komplette Geschichte hinter dem Bild kennt, hier ist das, was daraus geworden ist:

Weitere Bilder

 

Autor:in
Cassian
Anwalt aus Köln
Jemand der gerne reist und immer die Kamera dabei hat. Gerne auch mit Zelt dahin, wo weniger Menschen im Bild stören. Am liebsten zum Sonnenauf- und Untergang am richtigen Ort und wenn es der Wecker schafft, auch Nachts zur Milchstraßenzeit
Jemand der gerne reist und immer die Kamera dabei hat. Gerne auch mit Zelt dahin, wo weniger Menschen im Bild stören. Am liebsten zum Sonnenauf- und Untergang am richtigen Ort und wenn es der Wecker schafft, auch Nachts zur Milchstraßenzeit

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